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Gewohnt stimmstark: LES MISÉRABLES in Tecklenburg

Nach zwölf Jahren führten die FreilichtSpiele Tecklenburg gestern Abend erneut den Klassiker LES MISÉRABLES auf. Nicht das erste Revival der beliebten OpenAir-Bühne, aber sicherlich eines, dass die Fans dort gerne erneut erleben wollten. Unsere Redaktion bestand 2006 noch nicht und in den letzten Jahren gab es neben opulenten Aufführungen sogar eine herausragende Verfilmung. Vorfreude und Erwartungen waren für die gestrige Premiere entsprechend groß.


Auf fast vierzig Jahre kann der Musical-Welterfolg LES MISÉRABLES mit der Musik von Claude-Michel Schönberg  und dem Libretto von Alain Boublil, basierend auf Victor Hugo’s gleichnamigen Buch („Die Elenden“), zurückblicken. 1980 in Paris welturaufgeführt, gehört das schwere Werk zu jenen, die durch einzigartige Solotitel unvergessen bleiben und durch dessen Handlung es wie geschaffen für eine Inszenierung unter freiem Himmel ist.

Die Geschichte beginnt 1815 in Toulon (Frankreich). Jean Valjean (Patrick Stanke) verbüßte 19 Jahre in einem Straflager, weil er Brot für seine Familie stahl. Mit seiner Sträflingsnummer auf der Brust ist er auch nach seiner Entlassung gebrandmarkt. Nach einer barmherzigen Begegnung mit einem Bischof (Florian Soyka) möchte sich Valjean ein neues Leben aufbauen und arbeitet sich bis zum Bürgermeister von Montreuil-sur-Mer vor. So lernt er 1823 Fantine (Milica Jovanovic) kennen, die eine uneheliche, kranke Tochter hat. Am Sterbebett verspricht Valjean sich um Cosette (Daniela Braun) zu kümmern. Er befreit sie aus den Fängen der sklaventreiberischen Wirtsfamilie Thénardier (Jens Janke und Bettina Meske). In all den Jahren muss er seine Identität jedoch geheim halten, denn der mittlerweile zum Polizeiinspektor beförderte Javert (Kevin Tarte) sucht seinen entflohenen Sträfling unentwegt. Häufig kommt es zu Begegnungen, in denen Valjean’s Identität beinahe zum Vorschein kommt, doch 1832 kann er diese in Paris nicht mehr verdecken. Die Stadt ist zu dieser Zeit in Aufruhr, denn die hohe Armut treibt die Bürger auf die Straßen. Studenten kämpfen unter der Führung von Enjolras (David Jakobs) an Barrikaden für eine bessere Zukunft. Vergeblich. Doch bei all dem Leid der Kämpfe findet auch die Liebe ihren Platz. Cosette und Marius (Florian Peters) werden ein Paar. Valjean steht dieser Liebe nicht im Weg und rettet den Verliebten vom Schlachtfeld. Zuvor trifft er abermals auf Javert und kann bei dessen Gefangenschaft  durch die Studenten die Seiten wechseln. Die schicksalshafte Entscheidung seinen Widersacher nicht zu töten führt den sturköpfigen Machthaber in den Selbstmord. Damit seine Geschichte das Leben der Ziehtochter nicht nachträglich beeinflusst, verlässt Valjean diese heimlich und wohnt auch deren Hochzeit nicht bei. In seinen letzten Stunden sind alle jedoch wieder vereint.

Gegenüber 2006 zeigt sich in Tecklenburg eine sehenswerte Häuserfassade im zentralen Blickfeld. Auf der linken Drehbühne ist der Wohnort des Bischofs von Digne und später der Versammlungsort der Studenten zu sehen. Über dem rechten Torbogen strahlt ein überdimensionales Kreuz fast schon provokativ das religiöse Fazit der Handlung aus. Im zweiten Akt zeigt sich das Bühnenbild in atmosphärischen Licht. Der Barrikaden-Atmosphäre hingegen werden die FreilichtSpiele leider nicht gerecht. Nach den konsequenten Steigerungen der vergangenen Jahre und Inszenierungen wie 2013 in Magdeburg, hatte man hier auf effektvolle Schusswechsel gehofft. Wie auch schon 2006 kamen diese nur vom Band und wirken dadurch sehr unrealistisch. Auch wenn die Barrikaden meist aus der Sicht der Studenten gezeigt werden, so hätte eine andere Perspektive mit angreifendem Ensemble die Kriegsszenen intensivieren können.

Auch wenn kreativ keine neuen Highlights gesetzt wurden, so ist das 38-jährige Musical durch das stimmgewaltige, riesige Ensemble, das die mitunter aufwendigen Choreographien von Kati Heidebrecht klasse umgesetzt hat, mitreißend. Von diesen getragen laufen die bekannten Solisten zur Höchstform auf und ernten für die lange und anspruchsvolle Vorstellung tosenden Applaus. Patrick Stanke feiert ebenfalls wie das Musical ein kleines Comeback am malerischen Ort und begeisterte mit seinem gefühlvollen und ausdrucksstarken Talent. Kevin Tarte zeigte einnehmende Bühnenpräsenz und unterstrich diese mit seiner kraftvollen Stimme. Die wenige Zeit ihrer Figur lebt Milica Jovanovic mit engelsgleichem Gesang voll aus. Ebenfalls positiv hervorzuheben sind Lasarah Sattler (Eponine) und David Jakobs (Enjolras), sowie die stimmungsaufhellenden Thénardiers Jens Janke und Bettina Meske. Höchste Anerkennung steht auch dem 20-köpfigen Orchester unter der Leitung von Tjaard Kirsch zu, die das lange Stück von der ersten bis zur letzten Sekunde klangvoll begleitet haben.

Es bleibt ein gelungener Abend mit herausragenden Solisten, einem stimmgewaltigen Chor und großartigem Orchester, die allesamt die Besucherohren verwöhnt haben. Als langjähriger Zuschauer wartete man aber auf eine neue, herausstechende Idee des Kreativteams und hätte sich nach anderen Inszenierungen und dem Film-Spektakel mehr Effekte gewünscht. Bis zum 15. September ist LES MISÉRABLES in Tecklenburg zu sehen und bleibt eine Pflichtveranstaltung auf hohem Niveau.


Hauptbild und Galeriebilder 1-7: Holger Bulk
Folgende Bilder: Stephan Drewianka



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